
„Emil macht sowieso, was er will“, „Ein friedliches Gespräch mit unserer Tochter ist nicht mehr möglich“, „Mein Mann ist zu streng zu den Kindern“ – drei Beispiele für die Arbeit der Bochumer Erziehungsberatungsstellen. Seit 70 Jahren helfen sie bei Fragen und Problemen. Auf dem Flur der Anlaufstelle in Südwest prangt auch der Spruch: „Mein Vater schlägt meine Mama.“ Denn: Die Erziehungsberatungsstellen sind für alle Familienmitglieder da, nicht nur für Eltern. Die Hilfe ist kostenlos und vertraulich.
Annette Märker hat in ihrem Büro einen ganzen Koffer voller Playmobil-Puppen. Ritter, Hexe, Krankenschwester, Clown… Kommen Eltern zu ihr in die städtische Erziehungsberatungsstelle, fragt sie, welche der Plastikfiguren für die gefühlte Rolle in der Familie steht. „Viele empfinden sich als Polizist“, sagt Annette Märker und berührt eine andere Figur: die gute Fee. „Viele Mütter wollen am häufigsten so gesehen werden.“ Doch Erziehung bringt Konflikte mit sich. Und Situationen oder Phasen, in denen Familien fachliche Beratung und konkrete Hilfe gebrauchen können. Diese können sie in einer der sechs Anlaufstellen finden – dezentral, in jedem Stadtbezirk, niederschwellig, auf die Bedürfnisse der Betroffenen zugeschnitten. Das Beratungsangebot gibt es auch vor Ort, zum Beispiel in Form von Sprechstunden in Bochumer Kindertagesstätten unter dem Titel „EBiTa“ und in Familienzentren. „Wir möchten Eltern von Beginn an dabei unterstützen, Kindern die bestmöglichen Chancen zu eröffnen“, sagt Bochums Oberbürgermeister Thomas Eiskirch anlässlich des 70jährigen Bestehens.

Das soziale Netz für Familien – durchlässig und doch so, dass möglichst niemand hindurchfallen kann – hat die Stadt schon früh gespannt. Bereits vor dem zweiten Weltkrieg bot Bochum Hilfe in Erziehungsfragen. Unter nationalsozialistischer Herrschaft wurde dieses Angebot jedoch von den Machthabern als überflüssig erachtet. Durch Initiative der alliierten Besatzungskräfte entstand das Angebot nach Kriegsende neu, in Bochum zunächst in einer Baracke an der Westhoffstraße. „Wenn ich an die Nachwirkungen des Krieges denke – Wohnungsmangel, Arbeitslosigkeit, habe ich Hochachtung vor diesen Eltern“, blickt Martina Schnell, Vorsitzende des Bochumer Ausschusses für Kinder, Jugend und Familie, auf das Gründungsjahr 1952 zurück. Vieles sei damals anders gewesen, auch im Umgang miteinander. „Mittlerweile haben Kinder und Jugendliche das Recht auf gewaltfreie Erziehung. Und die Erziehungsberatungsstellen helfen dabei, einen Weg dafür aufzuzeigen.“ Dabei sei das Konfliktpotential damals wie heute groß, das Beratungsangebot entsprechend vielfältig.
Mit den Einrichtungen des Caritas-Verbandes für Bochum und Wattenscheid und der Inneren Mission – Diakonisches Werk Bochum sind es acht Anlaufstellen für Familien, die – teils spezialisiert – trägerübergreifend zusammenarbeiten. Ihre Hilfe haben sie stetig weiterentwickelt. Ein Thema bestimmt dabei seit Jahren einen immer größeren Anteil an Beratungsgesprächen: die Trennung bzw. Scheidung von Eltern. Aber auch Depressionen, Ängste, Zwänge, Schlaf- und Essstörungen oder Schulverweigerung sind Gründe, warum Eltern, Kinder und Jugendliche Hilfe suchen – und bekommen. Die Wartezeiten sind meist vergleichsweise kurz. 2021 erhielten 64 Prozent der Ratsuchenden innerhalb von 14 Tagen nach ihrer Anmeldung einen ersten Termin.

„Die Erziehungsberatungsstellen sind ein wichtiger Partner in unserer Präventionskette und ein tragfähiger Baustein in unserer Jugendhilfe-Landschaft“, betont Thomas Eiskirch. Mit Blick auf die Corona-Pandemie und die Arbeit der Einrichtungen ist er sicher: „Da kommt noch viel auf uns zu – aus den Köpfen und Herzen der Kinder und Jugendlichen. Das sind und werden noch Herausforderungen sein, die lange nachwirken werden. Durch die Kontaktbeschränkungen in der Pandemie fehlten Bezugsrahmen, sind Freundschaften unterbrochen worden oder zu Bruch gegangen. Es gibt Jugendliche, die nach den Schulschließungen nicht mehr gut zurück in die Schule, in den Präsenzunterricht finden.“ Dankbar sei er daher, dass die Erziehungsberatungsstellen im Lockdown nur kurze Zeit auf Präsenztermine verzichtet haben, dass sie möglichst schnell auf Telefonberatung und Videogespräche umgestellt haben. „Diese Flexibilität“, betont der Bochumer Verwaltungschef, „ist bei Familienfragen wichtig. Denn: Auch in zehn Jahren wird nichts mehr so sein, wie es heute ist – wir werden ein anderes Gesellschaftsbild und andere Familienkonstellationen haben.“ Diesen Wandel wolle Bochum weiterhin mitgestalten.