Aktiv gegen Armut
Anna Nemitz (1873 – 1962)
Eine wahre Kämpfernatur war sie. Ein Arbeiterkind, das die Armut kannte – und genau deshalb wollte, dass niemand mehr leiden musste. Anna Nemitz wusste, wovon sie sprach, und sie erhob ihre Stimme laut und deutlich, als eine der ersten Frauen im Deutschland zweier Weltkriege.
Sie wurde 1873 in Bromberg geboren, lernte Schneiderin und gründete kurz drauf, gerade 19 Jahre alt, zusammen mit ihrem Mann Carl eine Familie. Der Tag, der als „Roter Sonntag“ in die Geschichte eingehen sollte, prägte ihr Leben: Das war 1906, bei der Demonstration der Sozialdemokraten gegen das preußische Klassenwahlrecht. Dort wurde Carl während einer Flugblattaktion verhaftet. Abends, bei einer Protestkundgebung, waren eigentlich keine Frauen als Rednerinnen zugelassen. Doch Anna Nemitz ergriff das Wort. Einige Männer stellten die kleine Frau kurzerhand auf einen Stuhl, damit man sie sah. Zu überhören war sie ohnehin nicht, sie, die die Ungerechtigkeit anprangerte, in treffenden Worten, spontan und überzeugend. Tosender Beifall war ihr sicher.
Von da an war Politik ihr Lebenselixier, war Engagement für soziale Gerechtigkeit ihre Bestimmung. Ihr Einsatz wurde mit der Arbeitslosigkeit ihres Mannes bestraft – dass seine Frau „bei den Sozialisten mitmacht“, war für die Arbeitgeber unverzeihlich. Nach einigen Monaten Hungerns fand er durch einen Freund eine Stelle im Walzwerk Bochum.
Die Probleme im damaligen „Kohlenpott“ waren deutlicher als anderswo. Grund genug für Anna Nemitz, sich einzubringen. Als der Reichstag 1907 aufgelöst wurde und neu gewählt werden musste, stieg sie als Wahlhelferin ein. Mutig und fleißig, das waren die Eigenschaften, die ihr die Freunde aus der neuen Heimat zuschrieben. Bei den Männern verschaffte sie sich schnell Achtung und erntete Anerkennung; die Frauen konnten all ihre Sorgen mit ihr besprechen. Bald haftete ihr der Name „Kreismutter“ an.
Ihrem Motto „Tue Recht und scheue niemand“ wurde sie gerecht. Sie riskierte Ärger mit den „Pickelhauben“, als sie SPD-Plakate für „ihren“ Kandidaten Otto Hue aus dem Fenster hing. Aber auch in den eigenen Reihen nahm sie kein Blatt vor den Mund. Als sie als Delegierte des Kreises Bochum-Gelsenkirchen-Hattingen-Witten 1908 zur Frauenkonferenz nach Nürnberg fuhr, sagte sie in ihrem Plädoyer, bezogen auf das neue Vereinsgesetz, nach dem auch Frauen in die SPD durften: „Nun haben wir auch die Möglichkeit, die Männer zur Verantwortung zu ziehen, wenn ihre Frauen nicht der Partei angehören.“
Schon damals wurde die „Frauenquote“ heiß diskutiert. So kam Anna Nemitz als erste Frau in den Kreisvorstand in Bochum. Die fünf Jahre, die sie dort gelebt hatte, waren prägend für sie. Als sie 1911 nach Berlin zog, um dort im Rathaus und im Reichstag weiter Politik zu machen, waren ihre Freunde und Parteigenossen an der Ruhr traurig. „Überall, wo die Genossin hinkam und in ihrer schlichten, aber den Feuer ehrlichster innerer Überzeugung und verzehrendem Eifer getragenen Weise für unsere Sache propagierte, gewann sie die Herzen ihrer Zuhörer“, stand am 30. Oktober 1911 im Bochumer Volksblatt. Sie habe gezeigt, „wie viele Kräfte im Volke schlummern“.
Diese erweckte sie auch in der Hauptstadt weiter: als Parlamentarierin und Parteifunktionärin, als unaufhaltsame Pazifistin, als mutige Rednerin – zum Beispiel zu „monarchistischen Tendenzen in der Reichswehr“, als Mitbegründerin der Arbeiterwohlfahrt (AWO), als Fürsprecherin der Frauen. Weder ein Hochverratsprozess noch der Zweite Weltkrieg konnten sie brechen.
Die AWO-Vorsitzende des Landesverbandes Berlin brachte es 1987, 25 Jahre nach dem Tod Anna Nemitz’, auf den Punkt: „Anna Nemitz machte Karriere, ohne Karriere zu wollen.“ Sie ist eine Frau, die in Erinnerung bleibt. Und das nicht nur, weil eine Straße, ein Altenheim und gar eine Autobahnbrücke nach ihr benannt wurden.
Andrea Behnke